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1. November – 31. Dezember 2024

Mo, Di u. Do–So 14–17 Uhr

| 1. November – 31. Dezember 2024:
Mo, Di u. Do–So 14–17 Uhr

Die helle Stadt

von Christiane Neudecker

In welchem Licht wir Dinge betrachten, hängt oft von den Umständen ab. Ein und denselben Ort können wir zu unterschiedlichen Zeitpunkten völlig anders wahrnehmen. Im April 2021, aus den noch fest angezogenen Klammern des Berliner Lockdowns kommend, während Schleswig-Holstein gerade Modellregion wurde, schien mir Theodor Storms graue Stadt vor allem eins zu sein: offen und hell – und voller Leben. 

»Kontaktfreie Recherchearbeit«, sprach die Dame aus der Verwaltung am Telefon. »Ist es das, was Sie hier tun? Dann können Sie anreisen.« Noch nie hat jemand mein Schreiben so definiert, aber ich verstand, worum es ihr ging: ich komme beruflich, ja. Und bleibe, so wie es irgend geht, allein.

Ein langer Winter in meiner Berliner Wohnung lag hinter mir, der immerwährende Blick von meinem Schreibtisch in den dunklen Innenhof, in dem die Sonne ab dem späten Herbst nicht mehr über den Dachfirst klimmt und die gegenüberliegenden Fenster dauerhaft verhangen sind, weil sich ein Aufziehen ohnehin nicht lohnt. Mein Geburtstag, den ich mit genau einem anderen Haushalt hätte verbringen dürfen, der dann aber nicht kam. Geschlossene Innenräume, Theater, Restaurants, Kinos, Kneipen, Bibliotheken, Museen – all die Dinge, die eine Großstadt lebenswert machen und die nun wegfielen auf unbestimmte Zeit. Meine Freunde und ich trafen uns draußen, wir spazierten durch die dämmrigen, mit Müll übersäten Parks, wir tranken Kaffee aus Thermoskannen und grillten im Schnee. Meine Lesungen wurden abgesagt, eine nach der anderen, meine Wohnung wurde zur Höhle. Dann, an Ostern, plötzlich ein Wasserschaden, das Wasser aus dem aufklaffenden Rohr rann aus meiner Decke auf die Altbau-Dielen im Flur. In der Nacht zum Ostersonntag stand ich mit einem Nachbarn im Keller, wir zerrten an rostigen Hähnen, sperrten das Warmwasser für den gesamten Seitenflügel. Jetzt, am Tag vor meiner Abfahrt knattert unter der nassen Decke das Trocknungsgerät, es faucht mich aus meinem Schutzraum hinaus, hinauf in den Norden. Das Stipendium ist ein Segen.

Schon im Zug atme ich auf, unter meiner noch immer ungewohnten Maske. Wie frei der Blick plötzlich wird. Hier ist alles weit. Die Felder, die Wiesen – auf einmal ist Frühling. Ich reise nicht nur vom Lockdown in die Öffnung, ich reise auch in eine andere Jahreszeit. Frau Dr. Hansen holt mich am Bahnhof ab, ihre roten Haare leuchten mir entgegen, ein Walnussbrot hat sie beim Biobäcker für mich reserviert, sie fährt uns zu ihrem denkmalgeschützten Dreiseithof in Rödemis. In der hellen, geräumigen Wohnung begrüßt mich ein frisch gepflückter Strauß Blumen aus dem Garten. 

Ich sauge alles auf. Den Hasen, der auf dem Grundstück herum hoppelt. Die rot und gelb lodernden Blütenköpfe der Tulpen. Den Strandkorb, in den am Nachmittag die Sonne hineinscheint und der mich vorm Wind schützt. Vor dem Küchenfenster steht die Kupferfelsenbirne in voller Blüte. Ich schiebe den Schreibtisch an das bodentiefe Fenster, von dem aus ich beim Schreiben ins Grün des verwilderten Nachbargrundstücks hineinblicken kann. Jeden Morgen stelle ich eine frische Tulpe neben meinen Rechner, die ich aus Frau Dr. Hansens Garten pflücken darf, es wird ein Ritual.

Die Stadt selbst wirkt auf mich so offen. Sie ist nicht grau, sie liegt für mich aber auch nicht am wirklichen Meer, dessen offene Weite ich hier vermisse. Nur selten laufe ich zur Dockkoogspitze, beobachte fröstelnd die Schwimmer in der frühlingskühlen Flut. Es zieht mich mehr zum Binnenhafen, zu den Menschen, die in den Cafés sitzen, zu dem wieder zu fließen beginnenden Leben. Ich kann einen Laden betreten, der kein Supermarkt ist. Kann in die Bibliothek gehen. Vor allem kann ich mit Fremden sprechen, mich in sie hineindenken, das gehört zu meinem Beruf. Mit einem gebeugten, alten Herren betrachte ich den entrümpelten Sperrmüll, der an einer Straßenbiegung auf Abholung wartet. Vorm Speicher helfe ich einer jungen Mutter beim Aufklauben ihrer davonspringenden Münzen. Trinkende Jugendliche laden mich am Dock auf eine Flasche Bier ein. Bei Loof bemerkt der Verkäufer noch vor mir selbst meinen blutenden Daumen und schenkt mir ein Pflaster. Fast ungläubig nehme ich all das wahr, ich tappe in den ersten Tagen über die Südermarsch, grüße Spaziergänger, beginne auf einem Feldweg zu tanzen. 

»Glaubst du, dass das so bleibt?«, fragt mich eine ermüdete Freundin am Telefon, die sich noch mitten in der Schließung befindet. Und ich erspähe durch das Küchenfenster den Hasen, der empört dem Gärtner beim Mähen seines Löwenzahns zusieht, und sage: »Es ändert sich ja, ich bin schon mittendrin in der Änderung.«

Aber auch ich bin unsicher. In der Bibliothek schlage ich Bücher auf, betrachte erste Sätze, schreibe sie ab. Ich will die Bücher nicht ausleihen, weiß nicht, wie schnell wieder zugemacht werden kann. Das ist noch so eine Erfahrung: das Gefühl, das alles schütter ist, verschwindet, gesperrt werden kann, jederzeit.

Die Leichtigkeit, mit der ich sonst die Orte und Länder wechsle, wird mir klar. Die Rhythmen, denen ich normalerweise folge. Im Winter zum Schreiben auf La Gomera sein, bei meiner Tante und den Menschen, die mir dort so ans Herz gewachsen sind. Verstreut in unsere Heimatorte telefonieren wir viel in diesem Frühjahr, bleiben verbunden. Der Musiker, der vor Ort lebt und mir vom Bildschirm meines Handys aus zuwinkt. Komm, sagt er, komm doch her. Dir muss doch kalt sein. Er wird zum Jahresende sterben, einfach einschlafen und nicht mehr aufwachen, wir werden uns nie wieder leibhaftig begegnen, aber das weiß ich hier in Husum noch nicht. 

Ich schreibe viel, denke viel. Mit dem Leiter des Theodor-Storm-Zentrums stapfe ich über die Felder, wir klettern über Zugschienen und ziehen weite Kreise, räumlich und gedanklich. Die geplanten Lesungen werden wir in diesem Frühjahr nicht umsetzen können, aber meine Gedanken fliegen, unser Gespräch inspiriert mich, ich schreibe einen Essay. Mit Frau Dr. Hansen sitze ich zum Kaffee auf der sonnenbeschienenen Terrasse, lausche ihrem faszinierenden Leben, ihrem Berufsweg bis zum Bundesministerium für Forschung und Technologie, ich vertraue ihr, die berufliche Geheimhaltung gewohnt ist, mein nächstes Buchprojekt an.

Die Touristen kommen zwei Wochen nach meiner Ankunft. Sie müssen sich nahtlos testen lassen, sie stehen in dichten Schlangen an den Testzentren und ich wechsele die Straßenseite und komme mir zugleich albern und schon der Stadt zugehörig vor. 

Ich vermisse die Nordsee, meine Herzensinsel Amrum. Ich plane einen Ausflug dorthin, bin doch so nah, aber die Regeln sind schwierig umzusetzen, der Test, den ich vorzeigen muss, würde für die Rückfahrt nicht ausreichen. Ich bin eine potentielle Gefährdung, alles bleibt fragil.

Im Herbst werde ich wiederkommen. Die Dinge werden anders sein, noch offener oder noch zugezogener. Und vielleicht wird es ohnehin so bleiben: wir bewegen uns im Unerwarteten, pendeln zwischen Einpferchung und Öffnung, zwischen Fassungslosigkeit und Gewöhnung, erwarten die Änderung, jederzeit.

Husum aber wird für mich dank dieses Aufenthalts nun immer eins bleiben: eine helle Stadt.

 

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