Felicitas Hoppe in Husum
»Kurz gesagt, es war richtig toll«, resümiert Felicitas Hoppe in der Lokalpresse ihren vierwöchigen Aufenthalt auf dem denkmalgeschützten Dreiseithof von Dr. Annemarie Hansen, der Stifterin des alle zwei Jahre vergebenen Storm-Schreiber-Stipendiums.
Das Interesse der Öffentlichkeit an der Büchner-Preisträgerin von 2012 war groß, und Hoppe ihrerseits interessierte sich nicht weniger für Land und Leute – und die Literatur, die in dieser Landschaft entstanden ist. Über den Schimmelreiter sagt sie: »Ich lasse mich immer noch gern in die Geschichte hineinziehen. Wenn ich überhaupt auf das Handwerkliche achte, dann werde ich eher ein bisschen neidisch.«
Ihre erste Storm-Lektüre war das Märchen Die Regentrude, das der Vater ihr vorlas. Später, so erinnert sie sich weiter, sei sie ein wenig in den Filmdarsteller des Hauke Haien verliebt gewesen. Und dann war da das vergilbte Storm-Lesebuch zu Hause.
Die Landschaft, aus der Storm so viele Anregungen empfing, nun als Stipendiatin für mehrere Wochen zu erleben, zu sehen, zu »riechen«, machte für Hoppe den besonderen Reiz des Storm-Schreiber-Stipendiums aus. Dabei begann ihre Geschichte mit der Nordsee alles andere als leicht, wie sie vor Kurzem in der ZEIT erzählt hat. Weil sie als Kind an Asthma litt, wurde sie mit fünf Jahren allein zur Kinderkur auf die ostfriesische Insel Langeoog geschickt. »Meine Erinnerung setzt mit der Abreise in Hameln ein: Mein Vater schickt sein Kind fort, tränenüberströmt. Später sagte er, dass es für ihn einer der furchtbarsten Momente seines Lebens war.« Auf der Insel angekommen, »packte mich eine der Kindertanten, wie wir die Betreuerinnen im Kurheim nannten, und fragte, warum ich weine. ›Ich möchte wieder nach Hause‹, sagte ich. Darauf sagte sie: ›Das hättest du dir früher überlegen müssen.‹«
Jahrzehnte später erst, während der Corona-Pandemie, greift Hoppe die Kindergeschichte auf. In dem Buch Fieber 17 erzählt sie davon, wie sie damals an ihrem »Halborgan«, vom Volksmund ›Seele‹ genannt, erkrankt, am Ende aber die Wochen der Kinderkur besteht: »Mein ganzes Dasein war darauf ausgerichtet, dass es bald vorbei sein würde – und dass ich darüber berichten würde, wenn ich wieder nach Hause komme. Als ich wiederkam, begrüßten mich meine Mutter und meine kleine Schwester am Bahnsteig. Sie ist nur zweieinhalb Jahre jünger – ich sah ihre kleine Hand und hatte plötzlich das Gefühl: Ich habe überlebt. Ich bin gewachsen.«
Abenteurer – was ist das?
Felicitas Hoppe wurde 1960 in Hameln als drittes von fünf Kindern geboren. Heute lebt sie in Berlin und zieht sich manchmal in ihre Einsiedelei ins Schweizer Wallis zurück, wo sie 2016, ähnlich wie im vergangenen September in Husum, ein Aufenthaltsstipendium erhielt. Daraus entstand das kleine, aparte Buch Der beste Platz der Welt.
»Diese extremen Landschaften erzeugen spezielle Geschichten, da sind die hohen Berge und das Meer ganz ähnlich«, meint Hoppe. Schon früh sei sie »eine große Geschichtenerzählerin« gewesen, zuerst für ihre vier Geschwister. Und sie erinnert sich an eine nächtliche Szene in jenem Kinderheim auf Langeoog: »Das Mädchen, das im Bett neben mir lag, kroch zu mir, wir kuschelten uns zusammen, und ich fing an, irgendwas zu erzählen. Plötzlich ging das Licht an, die wachhabende Tante kam und riss die Decke weg. Sie war erbost, schrie. Zur Strafe musste ich im Tagesraum auf einer Liege schlafen.«
Unglückselige Begebenheiten heißt Hoppes erstes Buch, das sie 1991 veröffentlicht. Ihr zweites Buch, Picknick der Friseure, erscheint 1996 im renommierten Rowohlt Verlag. Für den ersten Roman Pigafetta reist Hoppe 1997 in einem Containerschiff von Hamburg einmal um die Welt nach Hamburg. Heute erscheint ihr Gesamtwerk im S.Fischer-Verlag.
Mit der Antrittslesung als Storm-Schreiberin am 8. September im Schloss vor Husum eröffnet Felicitas Hoppe zugleich die Storm-Tagung 2023. Sie stellt diesen Abend unter das Motto »Abenteuer? Was ist das das?«, ein Zitat aus ihrem erfolgreichsten Buch, Iwein Löwenritter, in dem sie Hartmann von Aues berühmten Ritterroman für Kinder neu erzählt. »Weil ich wusste, dass ich in diesem wunderbaren Rittersaal würde auftreten dürfen, habe ich beschlossen, auch über Ritter zu sprechen«, sagt Hoppe. Jeder glaube zu wissen, was ein Abenteurer ist, aber »eigentlich erklären kann es niemand«. Die abenteuerliche ›Aventiure‹, wie der Begriff in dem beinahe tausend Jahre alten Stoff bei Hartmann von Aue lautet, sei, so Hoppe, nicht eine Abenteuerreise, bei der man sagt: Ich breche jetzt auf und fahre mal um die Welt. Sondern: »Ich breche auf und warte, was mir entgegenkommt.« Das Wort ›Aventiure‹ nämlich komme von ›Ankunft‹ und bedeute: »Ich gehe hinaus und sehe, was mir begegnet.« Und so auch will Hoppe ihr »Amt« als Storm-Schreiberin verstehen: »Ich möchte einer Stadt und ihren Menschen begegnen.«
Drei Wochen später, es ist bereits der letzte Abend ihres Stipendiats, verabschiedet Hoppe sich im Storm-Haus von Husum. »In vier Wochen wird man mit Husum nicht fertig«, gesteht sie. Husum habe so viele Ecken, wo ihr sofort Geschichten begegnet seien. Die Erlebnisse ihres Aufenthaltes fasst Hoppe mit fünf Novellentiteln zusammen, die sie augenzwinkernd als das Projekt »Nordische Novellen« ankündigt.
Die erste Novelle trägt den Titel »Das vierte Pferd« und bezieht sich auf die Ferienwohnung auf dem Dreiseithof, wo Hoppe einen ehemaligen Pferdestall bewohnte: »Als ich sagte: Ich sei also ein Pferd, korrigierte Frau Hansen mich: Nein, Sie sind vier Pferde.« Der zweite Titel lautet »Die Radstation« und erzählt davon, wie sie einen Rabatt für ihr Leihrad aushandelt, da sie es für vier Wochen mietet. Der Verleiher vermerkte grummelnd auf der Rechnung: »Braucht noch Geld für ein Eis«. Die unheimlichste Geschichte handelt vom »Nordseehotel«, der ausgebrannten Gebäuderuine am Dockkoog, wo Hoppe oft baden war. »Der Jüngling vom Nahkauf« wird von der Bekanntschaft mit einem jungen Kassierer in Rödemis erzählen, die fünfte Geschichte – »Wo ist Gretels Kopf?« – schließlich von drei Keramikmärchenfiguren hinter dem Storm-Archiv, die Hänsel, Gretel und die Hexe darstellten, ehe Gretel durch Vandalismus ihren Kopf verlor.
Ihre Lesung beginnt Hoppe dann mit der autobiografischen Geschichte über jene Kinderkur, die sie als Fünfjährige zum ersten Mal an die Nordsee führte, eine Geschichte, so Hoppe, »die ich eigentlich nie aufschreiben wollte, weil sie mir ein bisschen zu privat war«. Es ist der Auftakt zu einem besonderen Abend, der mit der ebenfalls autobiografischen Geschichte Gesammeltes Unglück, einem Text über Hoppes Lesesozialisation, noch lange nicht endet. Nach einer Dreiviertelstunde öffnet sie den Raum für Fragen des Publikums, ehe es nach einem unterhaltsamen Q&A-Part in den Nebenzimmern weiter geht, wo Felicitas Hoppe die Gespräche mit ihren Gästen bei Wein und frisch gebackenem Brot fortsetzt. Wer dabei gewesen ist, wird bestätigen: Das Storm-Haus war an diesem Abend nicht der schlechteste Platz der Welt.