Storm ist ein Kontinent
Tilman Spreckelsen im Gespräch
Herr Spreckelsen, mit dem »Nordseekind« liegt der fünfte Band Ihrer Storm-Krimi-Reihe vor, die 2015 mit dem »Nordseegrab« begann. In der erzählten Zeit sind seitdem nur zwei Jahre vergangen. Das »Nordseegrab« spielt 1843, das »Nordseekind« 1845. Zielten Ihre Überlegungen von Beginn an auf eine solche Reihe um den jungen Advokaten Storm?
Tilman Spreckelsen: Nein, am Anfang war eigentlich nur ein einziges Buch geplant. Aber im Lauf der Beschäftigung mit Storm und seiner Zeit taten sich so viele Türen auf, dass ich dann später durch einige von ihnen hindurchgegangen bin. Und dahinter waren dann immer noch mehr.
Auch im fünften Band bleiben Sie dem Gestaltungsprinzip treu: Die Haupthandlung um den ermittelnden Dichterjuristen Theodor Storm, die aus der Ich-Perspektive seines Schreibers Peter Söt erzählt wird, ist umrahmt von einer etliche Jahrhunderte zurückliegenden Nebenhandlung, mit der das Buch einsetzt. Dieser, nur auf wenigen Seiten skizzierte Handlungsstrang unterbricht die Geschichte um Storm dann noch drei Mal. Wie kamen Sie auf diese Idee und welchen Hintergrund hat die Nebenhandlung im fünften Band?
SPRECKELSEN: Die eigentliche Handlung hat mit Peter Söt eine klare Perspektive, die mir gut gefällt und interessant zu schreiben ist, die aber zugleich auch defizitär ist: Was Söt nicht weiß, was er nicht wahrnimmt, das kann er auch nicht schildern. Dafür sind die kursiven Einschübe da. Sie liefern einen Hintergrund, der im ersten Band aus der Perspektive einer ziemlich suspekten Figur besteht, im zweiten aus der Biographie einer Sektengründerin und jetzt, im fünften, aus den Erfahrungen einer jungen Frau aus dem Mittelalter, die die Opferrolle für sich nicht akzeptiert und eine Entwicklung anstößt, die noch einige hundert Jahre später Folgen hat – in Theodor Storms Zeit.
Die Haupthandlung weist diesmal vor allem Bezüge zur Novelle »Auf dem Staatshof« auf. Zugleich spielt Storms Freund Friedrich Feddersen eine wichtige Nebenrolle …
SPRECKELSEN: Ja, das war mir wichtig. Storms Werke sind ebenso wie seine Erlebnisse wichtige Anregungen für meine Bücher. Hier ging es mir darum, Storms Figur Anne Lene von einer anderen Seite zu beleuchten. Bei ihm ist sie freundlich, ein bisschen schüchtern, am Ende sterbensmatt. Bei mir gibt sie sich, vor allem ihrer Großmutter gegenüber, ähnlich. Aber sie hat noch eine andere Seite.
Treu geblieben sind Sie auch dem Verfahren, jedes Kapitel der Hauptgeschichte – im aktuellen Band sind es 21 – mit einem Zitat aus Storms Werken zu überschreiben. Was interessiert Sie an Storm und seinem Werk?
SPRECKELSEN: Wo anfangen? Seine Erzählweise, die manchmal geradezu bebt, seine ambivalenten Figuren, denen man nie auf den Leim gehen sollte, die wundervolle Atmosphäre, die Landschaft, die er manchmal zugleich klar zeichnet und verklärt, all das … Seine Texte bilden einen eigenen Kontinent, den man immer neu durchmessen kann. Es gibt nur wenige Autoren, die man bei aller Liebe auch fünf- oder sechsmal lesen würde. Storm gehört dazu.
Zugleich war Storm eine mitunter schwierige Persönlichkeit. Als Leser des faszinierenden Brautbriefwechsels leidet man immer wieder mit seiner Braut Constanze, der in der fiktiven Krimihandlung denn auch erkennbar die Sympathien gehören, ebenso wie dem Schreiber Söt. Die Figur Storm hingegen muss einige ›goldene Rücksichtslosigkeiten‹ ertragen …
SPRECKELSEN: Sicher, zugleich ist der Storm meiner Romane vielleicht ein bisschen freundlicher, gutherziger und vor allem gelassener als das reale Vorbild. Er ist mitfühlend, denken Sie an die letzten Kapitel, aber manchmal unterschätzt er sein Gegenüber auch und fällt vorschnelle Urteile, die sich dann später nicht halten lassen. Zum Glück hat er Constanze und Söt.
Gibt es neben Storm weitere Autoren, die die Krimi-Reihe inspiriert haben?
SPRECKELSEN: Ich bin ein Freund der Maigret-Romane von Georges Simenon, aber Storm ermittelt völlig anders. Ich mag die Bretagne-Krimis von Jean-Luc Bannalec, die Figurenzeichnung bei Charles Dickens.
Welchen Einfluss hat Ihr Beruf als Journalist auf Ihr schriftstellerisches Schreiben?
SPRECKELSEN: Er gab zumindest den Anstoß. Wäre ich damals nicht für eine Storm-Reportage nach Husum gekommen, und hätte ich dort nicht weit mehr recherchiert, als ich für den Artikel brauchte, hätte ich Das Nordseegrab vielleicht nicht geschrieben. Natürlich gibt es Sicherheit, wenn man seit Jahren vom Schreiben lebt, auch wenn das literarische Schreiben ein ganz anderes ist als das journalistische. Der wichtigste Einfluss ist vielleicht die Rolle der Recherche: Ich muss beim Schreiben ganz genau wissen, wie meine Schauplätze aussehen, wovon die Menschen leben, die dort herumlaufen, welche Pflanzen wachsen, was auf dem Markt angeboten wird, all diese Dinge.
Wie viel Autobiografisches steckt in den Figuren und Ereignissen?
SPRECKELSEN: In diesem Band meine lebenslange Sehnsucht nach der Insel Juist.
Haben Sie Rituale beim Schreiben?
SPRECKELSEN: Storm lesen, Schauplätze auswählen und aufsuchen, dann ganz langsam die Geschichte finden. Meist steht das letzte Kapitel als Erstes fest.
Herr Spreckelsen, wir danken Ihnen für das Gespräch.